Berliner Morgenpost: Kiew braucht Garantien – Leitartikel von Christian Kerl

In den nächsten Wochen steht die größte Schlacht in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg bevor, mit wahrscheinlich hohen Verlusten auf beiden Seiten.

Die Großoffensive der ukrainischen Streitkräfte zeigt erste Erfolge. Ein Durchbruch ist das noch nicht, der Verlauf der Militäroperation ist allenfalls vage erkennbar, die größten Truppenteile sind noch gar nicht im Einsatz. Klar ist nur: In den nächsten Wochen steht die größte Schlacht in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg bevor, mit wahrscheinlich hohen Verlusten auf beiden Seiten. Trotzdem ist eine Entscheidung in diesem Krieg so schnell nicht zu erwarten. So sehr man ­Kiew einen Erfolg wünscht: Der Westen muss sich hüten, die Erwartungen an die ukrainische Armee zu übertreiben.

Drei Szenarien sind denkbar: Sollte der große Gegenschlag völlig scheitern, die Ukraine bei hohen Verlusten an Truppen und Gerät ohne strategisch bedeutsame Gewinne bleiben, wäre das ein Debakel, das die Armee selbst ebenso wie den Rückhalt der Verbündeten massiv schwächen könnte. Aber dies ist der unwahrscheinlichste Ausgang.

Die meisten westlichen Militärexperten rechnen aber auch nicht damit, dass Selenskyjs Truppen im Sommer alle russisch besetzten Gebiete zurückerobern können, trotz der hohen Motivation und moderner westlicher Waffen. Die Russen haben dazugelernt und sich hinter stark befestigten Verteidigungslinien verschanzt.

Der wahrscheinlichste Verlauf liegt in der Mitte: Die Ukraine kann hoffen, einige wichtige Teile ihres von Russland okkupierten Territoriums vor allem in der Region Donezk zurückzuer­obern, ohne aber den Kollaps der russischen Armee zu erzwingen; im günstigsten Fall kommen ukrainische Streitkräfte der Krim zumindest so nahe, dass sie dort Nachschubwege attackieren können.

Das ist, folgt man den Überlegungen westlicher Militärs, jetzt das zentrale Ziel: der russischen Armee mindestens einen massiven Schlag zu versetzen, der den Kreml veranlasst, strategische Lage und Kriegsziel zu überdenken. Dass Putin dann bereit wäre, Waffenstillstandsgespräche aufzunehmen, ist bislang allerdings nicht mehr als eine vage Hoffnung.

Viel spricht dafür, dass der Kremlherrscher aktuell eher daran denkt, den Krieg in die Länge zu ziehen, in der Hoffnung, dass in anderthalb Jahren ein erneut gewählter US-Präsident Trump die Hilfe für die Ukraine beendet. Dieses Kalkül muss der Westen beizeiten durchkreuzen. Die Verbündeten müssen schon jetzt langfristig über die Offensive hinausdenken. Die Ukraine wird weiter und mehr Unterstützung benötigen.

Dem Land jetzt schon den Beitritt zur Nato umgehend nach dem Krieg in Aussicht zu stellen, wie es die Allianz diskutiert, ist dabei zwar gut gemeint, aber unklug: Die Erwartung, dass dann bald US-Soldaten direkt an der russischen Grenze stehen, wäre für Putin nur eine Aufforderung, den Krieg bis zur letzten Patrone fortzusetzen, koste es, was es wolle.

Was die Ukraine aber dringend braucht, sind eindeutige und belastbare Sicherheitsgarantien, dass sie über Jahre alles an Munition, Waffen und Ausbildung erhält, was sie benötigt, um sich zu verteidigen – in diesem Krieg und erst recht danach, wenn es darum geht, Russland vom nächsten Angriff abzuhalten.

Je verbindlicher die Zusagen sind, dass die Ukraine dauerhaft auf starke Hilfe rechnen kann, desto eher wird Putin seine Strategie ändern. Ein Erfolg der Offensive dürfte beides befördern, die Hilfszusagen ebenso wie Putins Einsicht. Aber der Westen beginge einen großen Fehler, wenn er umgekehrt die weitere Unterstützung vom Verlauf der bevorstehenden Schlacht abhängig machen würde.

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Quelle: BERLINER MORGENPOST, REDAKTION
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