Irgendetwas ist immer. Fahrgäste der Bahn können davon ein Lied singen. Ein düsteres Jahrzehnt – Leitartikel von Wolfgang Mulke

Berliner Morgenpost: Ein düsteres Jahrzehnt – Leitartikel von Wolfgang Mulke

Irgendetwas ist immer. Fahrgäste der Bahn können davon ein Lied singen. Mal fehlt ein Lokführer und der Zug wartet an irgendeinem Bahnhof auf Ersatz. Mal ist eine Weiche kaputt, mal keine Zeit, zwischen zwei Fahrten die Toiletten zu leeren. Die Züge sind oft voll oder unpünktlich. Trotzdem fahren so viele Menschen mit der Bahn wie noch nie. Noch.

Für die gewollte Verkehrswende ist das ein gutes Zeichen, mit Blick auf die Deutsche Bahn das einzige. Dabei soll das Staatsunternehmen eine tragende Rolle beim Klimaschutz in der Mobilität spielen. Doch kann das Unternehmen dies angesichts des aktuellen Desasters überhaupt leisten? Zweifel daran sind angesichts der vielen gravierenden Probleme angebracht. Drei davon sind besonders bedenklich.

Die Deutsche Bahn und auch der für sie verantwortliche Verkehrsminister verweisen vor allem auf die marode Infrastruktur.

33.000 Kilometer misst das Schienennetz. Es ist chronisch überlastet, auch weil sich drei Sparten die Trassen teilen müssen, der Güterverkehr, der Nahverkehr und der Fernverkehr. Wenn Strecken für Bauarbeiten gesperrt werden müssen, bricht an den Hauptstrecken das Chaos aus. Überall wird gebaut, um den Verkehr aufrechterhalten zu können. Ab dem kommenden Jahr sollen die am stärksten befahrenen Trassen monatelang geschlossen und in dieser Zeit praktisch neu gebaut werden. Diese neue Strategie, gleich ganze Strecken auf Vordermann zu bringen, statt mal hier, mal dort etwas in Ordnung zu bringen, ist ein Fortschritt. Doch bis die Bahn damit das ganze Netz auf einen modernen Stand gebracht hat, wird wohl ein Jahrzehnt vergehen. Für die Kunden wird es ein trauriges Jahrzehnt, stellen sich spürbare Verbesserungen doch nur langsam ein.

Unmittelbar damit zusammen hängen die offenen Finanzierungsfragen. Der Bund steckt zwar immer mehr Milliarden in den Schienenverkehr. Doch es reicht trotzdem hinten und vorn nicht. Es rächen sich bei der Pflege der Infrastruktur die Versäumnisse der vergangener Jahrzehnte. Diese Kritik müssen sich alle an einer Bundesregierung je beteiligten Parteien gefallen lassen. Sicher trägt die Bahn selbst ein gehöriges Stück Mitschuld, weil die Mittel nicht immer optimal eingesetzt wurden und das Unternehmen nicht rechtzeitig Alarm geschlagen hat, als das Desaster längst absehbar war.

Die große Frage ist, ob der Bundeshaushalt auf längere Zeit das benötigte Geld für die Modernisierung der Infrastruktur bereitstellen kann.

Das ist die Aufgabe des Bundes. Die der Bahn ist auch nicht leichter. Der Konzern ist hoch verschuldet und macht Verluste. Das engt die Spielräume für Investitionen ein. Nun soll der größte Gewinner, die Spedition Schenker, auch noch verkauft werden, um den Schuldenberg zu drücken. Auch leidet die Bahn an steigenden Kosten, von der Energie über den Bau und die Kreditzinsen bis hin zum Personal. Für große Sprünge ist nicht genug in der Kasse. Schlimmer noch. Die Ticketpreise werden steigen müssen. Schlecht für die Kunden.

Das dritte große Problem entwickelt sich erst. Es fehlt an Personal. Ohne Lokführer fährt (noch) kein Zug. Ist ein Stellwerk nicht besetzt, ruht der Verkehr. Wie die Bahn die Herausforderung einer alternden Belegschaft meistern will, erschließt sich nicht.

Auf die Bahnfahrer wartet ein düsteres Jahrzehnt, bevor die Bahn tatsächlich so gut ist, wie es Werbespots zeigen. Das klappt nur, wenn die drei größten Probleme gelöst werden können.

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Quelle: BERLINER MORGENPOST, Redaktion
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